Gastbeitrag: Mehr Physik und Ökologie wagen!

Portraitfoto Klaus Mindrup

Der SPD-Umweltexperte Klaus Mindrup sieht Deutschland unzureichend vorbereitet auf den notwendigen Umbau des Energiesystems. Flächenverfügbarkeit für erneuerbare Energien sei ein überschätztes Problem, insbesondere Photovoltaik-Ausbau müsse um Größenordnungen wachsen. Er skizziert in seinem Standpunkt, wie dieser Transformation der Weg geebnet werden könnte.

Aktuell befinden wir uns weltweit in zwei großen Krisen, der Klimakrise und der Coronapandemie. Während die Überwindung der Coronapandemie durch mRNA-Impfstoffe eine Frage der Zeit ist, nehmen die Emissionen von klimaschädlichen Gasen weltweit wieder zu. Da die Klimakrise im Vergleich zur Pandemie in Zeitlupe abläuft, besteht die große  Gefahr, dass irreversible Kipppunkte nicht wahrgenommen werden und die Reaktion der Weltgemeinschaft zu spät erfolgt. 

Die wichtigste Parallele beider Krisen ist, dass sie nur weltweit gestoppt werden können. Dies bedeutet, dass ein extrem gutes und koordiniertes Handeln auf lokaler, regionaler, nationaler und auf der Ebene von Staatengemeinschaften wie der EU sowie innerhalb der Weltgemeinschaft erforderlich ist. 

Keine „no-Covid“ oder auch „zero-Covid“-Strategie hätte das vollbringen können, was wir jetzt durch die Impfungen erreichen, eine Rückkehr in eine Welt, in der wir unsere Bedürfnisse nach menschlicher Nähe und Begegnungen wieder ausleben können, denn wir sind als Menschen soziale Wesen.

Mit den richtigen Innovationen können also Krisen überwunden werden, diese Schlüsselbotschaft gilt es jetzt auch für die Bekämpfung der Klimakrise zu nutzen. Wir haben die Alternativen zum Umstieg aus der fossilen Welt, müssen sie nur schneller und besser nutzen.

Potential für Wind- und Sonnenkraft in Deutschland unterschätzt

Photovoltaik wurde innerhalb von zwei Jahrzehnten von der teuersten Energiequelle zur kostengünstigsten und auch die Windkraft durchläuft eine steile Lernkurve.  Deswegen stehen wir weltweit vor einer Transformation unserer Energiesysteme, ökonomisch angetrieben durch die beschriebenen rasch fallenden Kosten erneuerbarer Energien wie Photovoltaik und Wind sowie sinkenden Kosten von Speichern jeder Art. Elektrisch angetriebene Prozesse werden stark zunehmen und somit der Stromverbrauch  stark steigen. Durch die größere Effizienz elektrisch anstatt thermisch angetriebener Prozesse wird parallel der Endenergieverbrauch sinken.

In Deutschland sind wir allerdings auf diese Entwicklung völlig unzureichend vorbereitet. Wir kennen die Schlüsseltechnologien Wind, PV, Speicher, elektrische Antriebe, Wärmepumpen, Wasserstoff sowie Brennstoffzellen und Wasserstoffturbinen, aber das Zusammenspiel wird nicht organsiert. Dies hängt einerseits an wirtschaftlichen Interessen, andererseits an einer fehlerhaften Analyse. Beginnen wir mit der fehlerhaften Analyse. Das Potential für Wind und PV in Deutschland wird deutlich unterschätzt

Das Potential für die Windenergie an Land habe ich vor zwei Jahren ausführlich beschrieben. Bei PV sieht es ähnlich aus. Der Bundesverband Neue Energiewirtschaft (BNE) fordert den Ausbau von 1000 Gigawatt PV, davon 500 GW an Gebäuden und 500 GW Freiflächenanlagen.

Wer nun behauptet, dass die notwendigen Flächen dafür nicht vorhanden sind, der orientiert sich nicht an den Fakten. Die Erzeugung an Gebäuden ist einfach möglich. Auch die Freiflächen sind ausreichend vorhanden. Ein Quadratmeter PV ersetzt 30 bis 50 Quadratmeter Anbaufläche für Energiepflanzen und dies ohne Belastung des Grundwassers und kann mit einer Strategie zur Verbesserung der Böden und der Artenvielfalt verbunden werden.

Laut BNE werden heute in Deutschland rund 24.000 Quadratkilometer Flächen für den Anbau von Energiepflanzen genutzt, davon knapp 10.000 zur Erzeugung von Biotreibstoffen mit insbesondere Weizen und Raps und 14.000 Quadratkilometer für die Erzeugung von Biogas vor allem mit Mais. Bei einer kompletten Umstellung auf PV könnte man damit den gesamten heutigen Endenergiebedarf von Deutschland decken. Diese einfache Rechnung zeigt, dass das Potential für PV Freiflächen ausreichend vorhanden ist. Die Professorin Christina von Haaren hat diese Ansätze in einer Anhörung des Umweltausschusses des Bundestages bestätigt.

Nachdem die Anreize für Kommunen für den Bau von Wind- und Solarparks in diesem Jahr vom Bundestag deutlich verbessert wurden, brauchen wir ein klares Signal, dass PV-Freiflächenanlagen im Außenbereich auch privilegiert werden müssen und dass wegen der deutlich höheren Effektivität PV Vorrang vor dem Anbau von Energiepflanzen haben muss. 

Das Tempo des Umbaus wird anziehen

Allein mit Erneuerbaren lässt sich aber die Klimakrise nicht bekämpfen. Alle Studien des IPCC sagen, dass wir zukünftig negative Emissionen brauchen, dass verstärkt CO2 in Senken gespeichert und der Atmosphäre entzogen werden muss. Der überzeugendste Ansatz dafür ist das Konzept des Bauhauses der Erde, das eine umfassende Bauwende fordert. 

Angesichts der Ressourcenknappheit muss dies Teil einer umfassenden neuen Kreislaufwirtschaft nach dem Cradle to Cradle-Prinzip werden. 

Ein Umbau des Energiesystems und die neue Kreislaufwirtschaft werden dazu führen, dass sich das Tempo für den Klimaschutz deutlich erhöhen wird. Dies bildet sich noch nicht in den Planungen Deutschlands auf dem Weg zur Klimaneutralität ab. Diese Planungen sind geprägt vom Grundsatz „Effizienz zuerst“. Diese Prioritätensetzung geht davon aus, dass wir zu wenig erneuerbare Energien haben, wie beschrieben eine falsche Annahme.

Am Beispiel einer Wärmedämmung kann man gut erläutern, wie Effizienz wirkt. Am Anfang ist die Einsparung groß, mit jedem zusätzlichen Zentimeter Dämmung sinkt der Effekt. Deswegen sind die letzten Meter beim Setzen auf Effizienz die schwierigsten. Bei erneuerbaren Energien, Speichern und einer neuen ökologischen Kreislaufwirtschaft ist es genau anders herum. Am Anfang sind die Kosten hoch, bei der PV früher beispielsweise rund 50 Cent pro Kilowattstunde. Mit dem technischen Fortschritt sinken die Kosten und die letzten Meter werden immer einfacher. Deswegen können wir auch deutlich schneller beim Klimaschutz vorankommen, wenn die richtigen Prioritäten gesetzt werden. Erste Priorität muss deswegen die schnelle und möglichst kostengünstige Einsparung von Treibhausgasen sein. 

Angesichts der enormen Preissteigerungen an den Strommärkten wird ein massiver Ausbau von Wind, PV und Speichern die Kosten für Industrie sowie die anderen Verbraucherinnen und Verbraucher aufgrund der Lern- und Skalenkurven dieser Technologien senken. Damit wird auch die soziale Akzeptanz für PV und Wind steigen. Die Entwicklung kann disruptiv verlaufen, wenn wir sie richtig angehen, natürlich auch mit der Folge, dass – wie gewünscht – die Einnahmen aus dem Verkauf von CO2-Zertifikaten schneller als geplant sinken.

Das Energiesystem wird dezentral und zellulär

Um das Ziel zu erreichen, ist dringend eine Strommarkt- und eine Abgabenreform notwendig, die sich an den volatilen erneuerbaren Energien ausrichtet und Synergien durch Sektorenkopplung und die Energiewende als Mitmachprojekt nicht länger ausbremst, sondern fördert. Dies setzt aber voraus, dass wir zukünftig unsere Maßnahmen zum Klimaschutz am Verursacherprinzip ausrichten. Das Quellprinzip hat dagegen Vorteile als statistische Methode.

So kommt man zwangsläufig zum Ergebnis, dass das Energiesystem der Zukunft zu einem großen Teil dezentral und damit zellulär aufgebaut sein wird. Sowohl im Hinblick auf den Flächenbedarf als auch auf die Netzkapazitäten ist es unerlässlich, einen möglichst großen Anteil des Stroms aus Wind und PV örtlich, lokal und regional zu erzeugen, dort direkt zu verbrauchen und zwischen zu speichern. Hierdurch wird vor allem der Solarstrom entweder gar nicht ins Netz eingespeist oder bedarfsgerecht zeitverzögert bereitgestellt.

Dazu müssen die bisher brachliegenden Potentiale flexibler Lastverschiebung zwischen den Sektoren Strom, Wärme und Mobilität erschlossen und das bisherige „Denken in Röhren“ aufgegeben werden. Dann kann und wird Klimaschutz zu einem Mitmachprojekt wie viele Beispiele zeigen, besonders eindrucksvoll die „Energiewende von unten“ in Bottrop. 

Nach der Bundestagswahl werden wir vor spannenden Koalitionsverhandlungen stehen. Als Naturwissenschaftler wünsche ich mir, dass wir nach der Wahl, angelehnt an den berühmten Satz von Willy Brandt von 1969, „mehr Physik und Ökologie wagen“.